Was tun, wenn Patient:innen erschöpft, gereizt oder hormonell „durch den Wind“ sind – und die klassische Diagnostik nicht weiterhilft?
Die Nebennierenrinde spielt in vielen Fällen eine zentrale Rolle, wird aber in der Praxis oft unterschätzt oder übersehen. Gerade wenn Stress (und seine Langzeitfolgen) mit im Spiel sind, lohnt sich ein genauerer Blick. In diesem Beitrag schauen wir uns an, wie du die vier Phasen der Nebennierenschwäche erkennst und wie du deine Patient:innen gezielter begleiten kannst.
Nebennierenrinde – kleines Organ, große Wirkung
Die Nebennieren sitzen wie kleine Mützchen auf den Nieren. Sie produzieren u. a. Cortisol, Adrenalin, DHEA und Aldosteron – allesamt Hormone, die unser Energielevel, Immunsystem, Blutdruck und Schlaf-Wach-Rhythmus maßgeblich mitsteuern.
Gerät das Stresssystem aus dem Gleichgewicht, ist oft die Regulation der Nebennierenhormone betroffen – manchmal mit dramatischen Folgen für Energie, Stimmung und Gesundheit.
Das Problem: Die klassische Diagnostik greift oft zu kurz
Blutwerte wie Cortisol oder ACTH liefern in der klassischen Diagnostik häufig nur einen statischen Schnappschuss – sie zeigen, was gerade in diesem Moment im Blut zirkuliert, aber nicht unbedingt, wie gut das Stresssystem insgesamt reguliert ist. Gerade das Cortisolprofil ist tageszeitabhängig und unterliegt starken Schwankungen – etwa durch Aufregung vor der Blutabnahme, schlechtem Schlaf oder äußeren Stressfaktoren.
Das Ergebnis: Viele Patient:innen haben auf dem Papier völlig „normale“ Werte, fühlen sich aber innerlich leer, gereizt oder dauerhaft erschöpft. Ihre Beschwerden werden dann schnell in die psychosomatische Ecke geschoben oder als „noch im Referenzbereich“ abgetan – obwohl das System funktionell längst aus dem Gleichgewicht geraten ist.
Und genau hier beginnt unsere Arbeit als Therapeut:innen:
Nicht die Frage „Ist der Cortisolwert pathologisch?“ ist entscheidend, sondern:
Wie ist das System insgesamt reguliert – über den Tag, über die Woche, über Jahre hinweg?
Wie ist die subjektive Belastung? Welche Muster und Symptome zeigen sich im Alltag? Gibt es Hinweise auf eine Dysregulation der HPA-Achse, auf Erschöpfungszeichen in anderen Systemen (z. B. Hormonhaushalt, Schlaf, Verdauung, Stimmung)?
Hier setzen wir funktionell-therapeutisch an: mit einem ganzheitlichen Blick, der Laborwerte einordnet – aber sie nicht als alleinige Wahrheit betrachtet.
Denn Regeneration beginnt nicht mit einem Laborblatt, sondern mit dem Verstehen der individuellen Stressbiografie.
Die vier Phasen der Nebennierenschwäche – ein praxisnahes Modell
Phase 1: Alarmphase
Die Patient:innen stehen unter Dauerstrom. Stress wird kurzfristig gut kompensiert. Typisch: innere Unruhe, Einschlafprobleme, Heißhunger auf Süßes oder Salz. Cortisol ist oft erhöht – aber das System arbeitet noch „scheinbar“ normal.
Praxis-Tipp: Hier ist noch viel Spielraum für präventives Arbeiten! Erste Regulation über Schlafhygiene, Blutzucker-Stabilisierung und Nervensystem-Beruhigung.
Phase 2: Anpassungsphase
Das System beginnt zu schwächeln. Energieeinbrüche, Stimmungsschwankungen, PMS, Infektanfälligkeit und Schlafprobleme nehmen zu. Cortisol kann schwanken – mal zu hoch, mal zu niedrig.
Wichtig: Viele Patient:innen bleiben in dieser Phase jahrelang „halb-funktional“. Oft wird das mit „Stress gehört halt dazu“ abgetan – therapeutisch aber der ideale Zeitpunkt, um gezielt einzugreifen.
Phase 3: Erschöpfungsphase
Die Kompensation bricht zusammen. Typisch: bleierne Müdigkeit, Reizbarkeit, depressive Verstimmungen, hormonelles Chaos. Cortisol oft niedrig, aber auch DHEA, Progesteron und Co. sacken ab.
Praxis-Tipp: Hier braucht es ein behutsames, langfristiges Vorgehen. Schnell auffüllen bringt wenig – wichtiger ist ein systemischer Ansatz inkl. Darm, Leber, Mikronährstoffe und Nervensystem.
Phase 4: Burnout / Regulationskollaps
Das System ist chronisch dysreguliert. Patient:innen sind kaum noch belastbar, oft auch emotional „leer“ oder ängstlich. Häufige Fehldiagnosen: Depression, Hashimoto, CFS.
Wichtig: Auch hier ist therapeutisch noch viel möglich – aber realistisch, langsam, langfristig. Vertrauen, Bindung und Geduld sind hier essenziell.
Fazit für die Praxis: Früh erkennen, ganzheitlich begleiten
Nebennierenschwäche ist keine Mode-Diagnose – sondern ein funktionelles Konzept, das vielen Patient:innen eine Erklärung für ihr Leiden gibt. Wichtig ist, nicht in Schubladen zu denken, sondern individuelle Stress-Biografien zu erkennen und systemisch zu arbeiten.
Gerade in Zeiten von Dauerstress, Hormonchaos und Selbstoptimierungsdruck ist dein Blick als Therapeut:in gefragt: frühzeitig erkennen, klar kommunizieren und nachhaltig begleiten.