In der naturheilkundlichen Arbeit begegnen wir tagtäglich Patient:innen mit Magen-Darm-Beschwerden. Die Ursachen können vielfältig, die Symptome unspezifisch und die Auswirkungen weitreichend sein. Umso wichtiger ist es, das Thema differenziert, ganzheitlich und praxisorientiert zu betrachten. In diesem Beitrag fassen wir relevante Beschwerdebilder, diagnostische Hinweise und therapeutische Überlegungen zusammen – ideal für die Anwendung in der Praxis.
📂 Leaky-Gut – der „löchrige Darm"
Beim sogenannten Leaky-Gut-Syndrom handelt es sich um eine pathologisch gesteigerte Durchlässigkeit der Darmschleimhaut. Normalerweise bildet die Darmschleimhaut gemeinsam mit dem Mikrobiom und der darunterliegenden Zellstruktur eine hochintelligente Schutzbarriere. Diese selektiert genau, welche Stoffe aus dem Darmlumen in den Organismus aufgenommen werden dürfen – und welche draußen bleiben müssen.
Bei einem Leaky-Gut ist diese Barrierefunktion gestört:
Die Tight Junctions zwischen den Enterozyten (Darmepithelzellen) verlieren ihre Dichtigkeit.
Dadurch gelangen nicht vollständig abgebaute Nahrungsbestandteile, Toxine, Mikroorganismen und Stoffwechselprodukte in den Blutkreislauf.
Das Immunsystem erkennt diese Substanzen als fremd und reagiert unter Umständen mit:
- systemischen Entzündungsprozessen
- Nahrungsmittelunverträglichkeiten
- Autoimmunreaktionen (z. B. Hashimoto, Psoriasis)
- Hautproblemen, Kopfschmerzen, chronischer Müdigkeit
Ein durchlässiger Darm wird häufig nicht isoliert diagnostiziert, sondern zeigt sich in einem Symptomenkomplex, der eine intensive Anamnese und interdisziplinäres Verständnis erfordert.
Wichtige Ursachen und Risikofaktoren:
- chronischer psychischer Stress (Cortisol beeinflusst die Schleimhautbarriere)
- Dysbiose – eine gestörte mikrobiologische Besiedlung
- entzündliche Prozesse durch pathogene Keime, Parasiten oder Pilze
- falsche Ernährung: ballaststoffarm, zuckerreich, reich an Transfetten
- Alkohol, Medikamente (v. a. NSAR, PPI, Antibiotika)
Therapeutische Überlegungen:
- Entlastung des Immunsystems durch ausgewogene, darmschonende Ernährung
- Wiederaufbau der Darmschleimhaut mit schleimhautschützenden Stoffen (z. B. Glutamin, Omega-3, Zink)
- gezielte Prä- und Probiotikatherapie zur Mikrobiomstabilisierung
- Förderung der Ausleitung über Leber, Niere und Darm
Ein Leaky-Gut kann nicht isoliert behandelt werden. Es gilt, das Mikrobiom zu stabilisieren, Entzündungen zu regulieren, und das Nervensystem mit einzubeziehen. Nur dann kann sich die Barrierefunktion der Darmschleimhaut nachhaltig regenerieren.
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📂 Dysbiose – gestörte mikrobiologische Balance
Unter einer Dysbiose verstehen wir eine Veränderung in der Zusammensetzung und Funktion des Mikrobioms, bei der nützliche Bakterienstämme reduziert und potenziell pathogene Keime (z. B. Fäulnisbakterien, Hefepilze oder Clostridien) überrepräsentiert sind. Dieses Ungleichgewicht kann sich auf vielfältige Weise auf die Gesundheit auswirken – lokal im Verdauungstrakt ebenso wie systemisch.
Typische Ursachen einer Dysbiose:
- wiederholte oder langfristige Antibiotika-Therapien
- unausgewogene Ernährung mit hohem Zucker-, Fett- und Eiweißanteil
- chronischer Stress, Schlafmangel, Überlastung
- Magensäuremangel (z. B. durch PPI-Einnahme), der die natürliche Keimbarriere stört
- Infektionen, Schwermetallbelastung, Umwelttoxine
Mögliche Symptome:
- unregelmäßiger oder veränderter Stuhlgang (Durchfall, Verstopfung)
- Blähbauch, Völlegefühl, rezidivierende Bauchkrämpfe
- Unverträglichkeiten (z. B. Histamin, Fruktose)
- Hauterscheinungen, Müdigkeit, depressive Verstimmungen
- erhöhte Infektanfälligkeit durch verminderte Immunmodulation
Diagnostisch bietet sich eine Stuhlanalyse inkl. Mikrobiomscreening, pH-Wert-Bestimmung und Entzündungsmarker (z. B. Calprotectin) an. Therapeutisch steht neben der Ursachenfindung die gezielte Regulation im Vordergrund:
- pathogene Keime beseitigen
- individuelle Ernährungstherapie (zucker- und fäulnisarm, ballaststoffreich)
- Einsatz gezielter Probiotika und Präbiotika
- ggf. phytotherapeutische oder orthomolekulare Unterstützung (z. B. Oreganoöl, Curcuma, Omega-3)
- Stärkung der Schleimhaut mit Schleimstoffen (z. B. Flohsamen, Eibisch, Ulme)
Ziel ist es, das Gleichgewicht im Mikrobiom wiederherzustellen und damit die Barrierefunktion und die immunologische Balance des Darms nachhaltig zu fördern.
📂 Pilzbelastung im Darm – Symptome, Diagnostik und therapeutische Strategien
Ein Befall mit Hefepilzen wie Candida albicans ist kein seltenes Phänomen in der therapeutischen Praxis – bleibt aber häufig lange unerkannt. Die Symptome sind unspezifisch und vielgestaltig. Dabei sind Pilze nicht grundsätzlich pathologisch: Ihre Aufnahme über Umwelt oder Ernährung ist völlig normal. Erst wenn das Mikrobiom aus dem Gleichgewicht gerät (z. B. bei Dysbiose, Leaky Gut, Immunschwäche oder nach Antibiotikaeinnahme), können sie sich ausbreiten und Beschwerden hervorrufen.
🦠 Intelligente Anpassung – Candida als Überlebenskünstler Candida kann über sogenannte „phenotypische Umschaltung“ seine Form verändern – von rundlich zu fadenförmig. Dadurch haftet er sich leichter an die Darmschleimhaut und kann unter bestimmten Umständen sogar Barrieren durchdringen. Besonders Zucker und leicht vergärbare Kohlenhydrate fördern seine Aktivität und Gärungsprozesse im Darm.
🔍 Typische Symptome eines Pilzüberwuchses:
- Blähungen, Völlegefühl, weicher Stuhl oder Verstopfung
- analer Juckreiz
- Heißhunger auf Zucker und Weißmehlprodukte
- rezidivierende Vaginalpilzinfektionen
- Hautprobleme, Müdigkeit, Brain Fog
- mögliche Leberbelastung durch entstehende Fuselalkohole
🧪 Diagnostik:
- orientierend: Stuhlanalyse mit Pilzscreening
- ggf. Hinweise über pH-Wert und Ungleichgewichte im Mikrobiom
- Anamnese und Symptomtagebuch ergänzen das Bild
💡 Therapie und Ernährung:
- keine strikte Zuckerfreiheit, aber klare Zuckerreduktion
- Ballaststoffreiche Ernährung mit Gemüse, Vollkorn, Hülsenfrüchten
- Einsatz naturheilkundlich bewährter Mittel wie z. B. Oreganoöl, Myrrhe, Kaffeekohle (nur nach Absprache)
- gezielte, milde Antimykotika-Therapie bei starker Besiedlung
- Probiotika vorsichtig und individuell wählen, Schleimhautschutz beachten
Wichtig: Bei Verdacht auf systemischen Pilzbefall oder bei persistierenden Beschwerden sollte immer interdisziplinär abgeklärt werden.
📂 Wenn der Bauch anschwillt … – Ursachen & Tipps bei Blähbauch
Ein aufgeblähter Bauch zählt zu den häufigsten Beschwerden im Praxisalltag – viele Patient:innen berichten dabei von einem Gefühl, „wie im 9. Monat schwanger zu sein“. Die Ursachen sind meist multifaktoriell und reichen von mikrobiellen Ungleichgewichten bis hin zu unzureichender Verdauungsleistung.
🧬 Häufige mikrobielle Ursachen eines Blähbauchs:
- Fäulnisbakterien wie Clostridien sp. oder Proteus
- Gasbildende E. coli-Stämme, v. a. bei Überbesiedlung im Dick- oder Dünndarm
- Hefepilze wie Candida albicans, insbesondere bei kohlenhydratreicher Ernährung
- Methanogene Archaeen (z. B. Methanobrevibacter smithii) im Kontext von IMO
- Sulfatreduzierende Bakterien bei H2S-SIBO
Diese Mikroorganismen sind teils natürlicher Bestandteil des Mikrobioms, können aber bei gestörter Balance oder enzymatischer Schwäche verstärkt Gase wie Wasserstoff, Methan oder Schwefelwasserstoff produzieren – mit spürbaren Folgen für das Bauchgefühl.
🥬 Ernährung Besonders eiweiß- und fettreiche Lebensmittel fördern die Aktivität der Fäulnisflora, was zu einer vermehrten Gasproduktion führen kann. Aber auch Ballaststoffe (v. a. aus Vollkornprodukten) können bei ungeübtem Darm zunächst zu mehr Gärung führen. Wichtig ist hier eine langsame Anpassung der Ernährung, um das Mikrobiom sanft zu trainieren.
🦠 Darmflora Eine gestörte mikrobielle Besiedlung (Dysbiose) kann dazu führen, dass selbst gesunde Lebensmittel zu Beschwerden führen. Bestimmte Keime wie E. coli sind zwar physiologisch, können bei Überwucherung aber problematisch werden – insbesondere, wenn die Fäulnisflora dominiert.
🍽️ Verdauungsleistung Schon im Mund beginnt die Verdauung. Wer hastig isst, verhindert eine ausreichende enzymatische Vorverdauung. Fehlen zudem Bitterstoffe oder mangelt es an Magensäure, Galle und Pankreasenzymen, wird der Nahrungsbrei nicht vollständig aufgespalten und beginnt im Dickdarm zu gären.
💡 Therapieansätze & Alltagstipps
- Langsam essen, gründlich kauen – >30-mal pro Bissen
- Reduktion schwer verdaulicher Eiweiße und Transfette
- temporäre vegane Ernährung (4–6 Wochen) zur Entlastung
- gezielte Bitterstoffgabe zur Enzymaktivierung
- vorsichtiger Einstieg in Vollkornprodukte (Ballaststoffgewöhnung)
Ein Blähbauch kann auch Hinweis auf tieferliegende Störungen wie SIBO, Verdauungsenzymmangel oder Gallensäureproblematiken sein – daher lohnt bei chronischer Symptomatik die weiterführende Diagnostik.
📂 SIBO – bakterielle Fehlbesiedlung im Dünndarm
Bei einer SIBO (Small Intestinal Bacterial Overgrowth) kommt es zu einer übermäßigen bakteriellen Besiedlung im Dünndarm – einem Abschnitt des Verdauungstrakts, der normalerweise nur wenig mikrobielles Leben enthält. Diese Fehlbesiedlung kann die Nährstoffaufnahme stören und eine Vielzahl unspezifischer Beschwerden auslösen.
Neben der klassischen Wasserstoff-produzierenden SIBO existieren auch Sonderformen, die zunehmend klinisch relevant sind:
IMO (Intestinal Methanogen Overgrowth): hier liegt kein bakterielles, sondern ein methanbildendes Archaeen-Übermaß vor, häufig assoziiert mit Verstopfung.
H2S-SIBO: durch sulfatreduzierende Bakterien entsteht vermehrt Schwefelwasserstoff – eine Diagnose, die noch wenig standardisiert ist, aber zunehmend beachtet wird.
Typische Symptome:
- postprandialer Blähbauch (insbesondere im Oberbauch)
- Bauchschmerzen, Krämpfe
- Völlegefühl, Übelkeit
- unregelmäßiger Stuhlgang, häufig mit wechselnder Konsistenz
- Nährstoffmängel (v. a. Vitamin B12, Eisen, fettlösliche Vitamine)
Diagnostik:
- H2-Atemtests mit Laktulose gelten aktuell als Goldstandard, da sie den gesamten Dünndarmverlauf abbilden. Glukosetests gelten als weniger zuverlässig, da sie nur proximale Dünndarmabschnitte erfassen.
- Ergänzend: Stuhlanalyse, Ernährungsprotokoll, Symptomtagebuch
Therapieansätze:
- initiale Reduktion der Fehlbesiedlung mit pflanzlichen oder schulmedizinischen Antimikrobiotika (z. B. Rifaximin, Berberin)
- parallel: Ernährungsanpassung, häufig orientiert an SIBO-geeigneten Ernährungsformen (z. B. Low FODMAP, spezifische Kohlenhydratdiät) – bei H2S-SIBO ist Low FODMAP jedoch nicht indiziert
- nachfolgend: Aufbau eines stabilen Mikrobioms (Hinweis: Nach einer SIBO-Behandlung sind nicht alle Probiotika in den ersten sechs Monaten geeignet), Schleimhautschutz, prokinetische Unterstützung, spezifische Kohlenhydratdiät)
Ziel ist es, die Fehlbesiedlung nachhaltig zu regulieren und das bakterielle Gleichgewicht langfristig zu stabilisieren – ohne das Mikrobiom zusätzlich zu schädigen.
📂 Gallensäureverlustsyndrom
Beim Gallensäureverlustsyndrom (GVS) gelangen zu viele Gallensäuren in den Dickdarm, was zu Reizungen und Verdauungsstörungen führen kann. Ursächlich ist meist eine gestörte Rückresorption im terminalen Ileum (z. B. nach Operationen, Entzündungen, chronischer Durchfall).
Typische Symptome:
- plötzlicher, wässriger Durchfall (oft kurz nach Mahlzeiten)
- Fettstühle, Blähungen
- diffuse Oberbauchbeschwerden
Diagnostik:
kann über eine gezielte Stuhlprobe geprüft werden, bei der erhöhte Gallensäurereste im Stuhl Hinweise auf eine gestörte Rückresorption geben können
Therapie:
- Gallensäurebindende Medikamente (z. B. Colestyramin)
- ggf. alternativ oder ergänzend: natürliche Bindemittel wie Bentonit, Pektine oder Kaffeekohle
- entzündungshemmende und schleimhautschützende Ernährung
Das Ziel liegt in der symptomatischen Kontrolle und langfristigen Stabilisierung der Gallensäuren-Rückresorption.
📂 Verstopfung
Verstopfung ist mehr als eine reine Entleerungsstörung – sie kann Ausdruck zahlreicher funktioneller, mikrobieller oder hormoneller Imbalancen sein. In unserer Podcastfolge zum Thema sprechen wir darüber, welche Ursachen hinter chronischer Obstipation stecken können, wie wir therapeutisch sinnvoll begleiten – und welche Rolle Lebensstil, Ernährung und Mikrobiom dabei spielen.
🎧 Jetzt reinhören in unsere Folge zu Hilfe Verstopfung – Was tun? (erhältlich auf Spotify, Apple Podcasts & Co.)
🎧 Podcast-Tipp: Probiotika – Sinn oder Unsinn?
In unserer Podcastfolge „Probiotika – Sinn oder Unsinn?“ beleuchten wir, welche Rolle Probiotika im therapeutischen Kontext wirklich spielen. Was kann man realistischerweise erwarten, wann sind sie hilfreich – und wann vielleicht sogar kontraproduktiv? Wenn du oder deine Patient:innen sich unsicher sind, wann und wie Probiotika sinnvoll eingesetzt werden können, lohnt sich ein reinhören.
👉 Die Folge findest du wie immer auf Spotify, Apple Podcasts & Co.
Fazit: Komplexität erkennen, individuell begleiten
Beschwerden im Magen-Darm-Trakt sind vielschichtig. Sie lassen sich nicht mit einem Standardprotokoll „abarbeiten“.
Als Therapeut:innen sind wir gefragt, die Zusammenhänge zu erkennen, symptomatische Beschwerden ernst zu nehmen und eine fundierte Begleitung anzubieten, die Ursachen, Verstärker und Schutzfaktoren gleichermaßen betrachtet.